Brilon-Totallokal: Über Jahrtausende hindurch war der Nutzgarten am Haus die wichtigste Quelle für die Selbstversorgung
brilon-totallokal: Brilon – Ein lateinisches Sprichwort lautet: „Si hortum in bibliotheca habes, deerit nihil.“ Auf Deutsch: „Wenn du einen Garten in einer Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen.“ Über Jahrtausende hindurch war der Nutzgarten am Haus die wichtigste Quelle für die Selbstversorgung der Bewohner mit Obst und Gemüse, also lebenswichtigen Vitaminen.
Als nach dem zweiten Weltkrieg Millionen von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten in die westlichen Bundesländer kamen, war es der damalige nordrhein-westfälische Landwirtschaftsminister und spätere Bundespräsident Heinrich Lübke, der die Idee hatte, dass die Flüchtlinge sogenannte Siedlungshäuser bauen sollten, jeweils mit einem großen Gartengrundstück und einem Schweinestall zur Selbstversorgung mit den wichtigsten Lebensmitteln. Bis in die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehörten Nutzgärten im ländlichen Raum, aber auch in den Schrebergärten der Großstädte, zum vertrauten Landschaftsbild.
Durch die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft und den Import von Nahrungsmitteln aus aller Herren Länder kam es in den letzten fünfzig Jahren zu einem immer weiter fortschreitenden Verfall der Lebensmittelpreise. Der gute alte Nutzgarten rechnete sich aus wirtschaftlicher Sichtweise nun nicht mehr und machte sogenannten Ziergärten Platz. Englischer Rasen, ein Gartenteich, ein paar Blumenbeete und die Terrasse zum Relaxen, anstatt sich in den Gemüsebeeten zu quälen, sind heute der Standard für Eigenheimbesitzer vom Flensburg bis Garmisch. Viele alte Obst- und Gemüsesorten sind seitdem schon ganz von der Bildfläche verschwunden.
Der Wechsel vom Nutz- zum Ziergarten förderte, seltsamerweise, auch den Einsatz von Pestiziden im Gartenbereich, denn so ein Garten ist ja auch ein Aushängeschild und muss immer schön gepflegt aussehen. Während früher die Gärten Einkünfte in Form von Lebensmitteln brachten sind sie heute zum Kostenfaktor geworden.
Die Arbeit im Nutzgarten ist natürlich schweißtreibender als Rasenmähen mit dem Rasentraktor. Stangenbohnen, Erbsen und Kartoffeln sind heutzutage nun mal nichts Repräsentatives, womit man beim BBQ Abend mit Bekannten (früher nannte man das einfach „Grillen“) Eindruck schinden kann. So ein Nutzgarten hat einfach so was Spießiges, Rückständiges und den Charme der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Außerdem sind die Produkte der wochenlangen Anstrengung längst nicht so perfekt wie die Ware aus dem Supermarkt. Wird es denn wohl irgendwann mal zu einer Renaissance der Nutzgärten kommen? Momentan sieht es nicht danach aus. Nutzgärten sind nun mal genauso aus der Mode, wie die soziale Marktwirtschaft, die intakte Familie und nicht korrupte Politiker. Schade!
Text: Norbert Schnellen