Brilon-Totallokal: Stichwort der Woche, von Norbert Schnellen…
brilon-totallokal: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, dieser Spruch unseres ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden. Kürzlich sah ich zufällig einen kurzen Ausschnitt einer „visionären“ Rede von Helmut Schmidt zur Verleihung des westfälischen Friedenspreises in Münster aus dem Jahr 2012 und erschrak: Viele Probleme, die in der EU inzwischen eingetreten sind, hat der 2015 verstorbene Altkanzler vor sechs Jahren schon sehr präzise vorhergesagt.
Sowohl das Ausscheiden der Briten, heute als „Brexit“ bittere Realität, als auch das Scheitern der EU Osterweiterung, sagte der Mann, den ich für einen der klügsten deutschen Politiker der Neuzeit halte, damals voraus. Besonders ein Satz sorgte für entsetzte Blicke der prominenten Zuschauer: „Der Grund für das Scheitern der EU könnten wir Deutschen sein“.
Helmut Schmidt führte aus, dass bei der Wiedervereinigung im Jahr 1990 niemand damit gerechnet hatte, dass Deutschland 20 Jahre später das ökonomisch stärkste Land auf dem Kontinent sein werde. Dabei bestünden bei unseren Nachbarn immer noch Zweifel an unserer Friedfertigkeit. Die Frage, ob die Deutschen sich wirklich geändert haben, stellen sich die Engländer und Franzosen bis heute. Schon im Jahr 2012 warnte Helmut Schmidt davor, dass das Verfassungsgericht, die Bundesbank und die Bundeskanzlerin Deutschland zum politischen Zentrum Europas erklären würden und das sehr zum Ärger der Nachbarn. Auch die „öffentliche Meinung“ in Deutschland sei zunehmend von einer nationalen, egoistischen Denkweise geprägt.
Heute, sechs Jahre später merken wir: Wenn wir selber nur unsere nationalen Interessen in den Vordergrund stellen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn in anderen europäischen Staaten „Populisten“ an die Macht kommen, die wiederum ihre nationalen Interessen in den Vordergrund stellen.
Als überzeugter Europäer sah Helmut Schmidt diese Entwicklung mit großer Sorge. Ihm war klar, dass in einer globalen Welt nationale Regierungen einzelner Staaten nicht mehr viel ausrichten können. Das Scheitern einer europäischen Verfassung und die gescheiterten Verträge von Maastricht und Lissabon haben aus der EU ein reines Bürokratiemonster gemacht, in dem die deutsche Regierung und deutsche Lobbyisten den Ton angeben.
Eine Reform der EU, welche das Wohl der Menschen in den einzelnen Mitgliedsstaaten in den Vordergrund stellt und nicht wie jetzt die wirtschaftlichen Interessen einzelner Staaten und Lobbygruppen, ist längst überfällig. Ein Scheitern der EU würde uns alle zum Spielball von Machtinteressen der Großmächte und der multinationalen Konzerne machen. Ich gebe zu, dass ich ungern in einem von Deutschland dominierten Resteuropa leben möchte, dessen unmittelbare Nachbarn dann den Chinesen, russischen Oligarchen oder Google und Amazon gehören würden. Das wäre nämlich die wahrscheinlichste Alternative zur EU.
Leider kann Helmut Schmidt den Regierenden in diesem Land nicht mehr ins Gewissen reden (sofern sie noch eins haben). Diesen Part müssen wir dann wohl jetzt selber übernehmen.
Ihr Norbert Schnellen