Berliner Morgenpost/AfD-Strategien entlarven/Leitartikel von Christian Unger
Die demokratischen Parteien schlucken immer wieder eine Pille zur Beruhigung: Die AfD sei eine Protestpartei. Man müsse nur genug Geld ausgeben, genug versprechen und beschwichtigen – und die Protestierenden finden den Weg zurück zu den Parteien der Mitte. Die AfD laufe sich tot, radikalisiere sich selbst weg. Doch dieser Mythos bröckelt. Die AfD hat sich mittlerweile eine stabile Wählerschaft erarbeitet. Sie speist sich nicht nur aus einem Verdruss gegenüber Linken, Liberalen, Konservativen oder Grünen. Die AfD hat eine Stammklientel, gewinnt Wahlen und Ämter.
Die renommierte „Mitte“-Studie unter Leitung des Bielefelder Konfliktforschers Andreas Zick und im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass acht Prozent der Menschen ein rechtsextremes Weltbild teilen. Sechs Prozent befürworten eine Diktatur mit einer starken Partei und einem „Führer“. 15,5 Prozent der Menschen in Deutschland verorten sich „rechts“ oder „eher rechts“ der Mitte. Und: Diese Einstellungen nehmen zu.
Das überrascht nicht. Wir leben in Krisenzeiten: erst Pandemie, dann Krieg in der Ukraine. Flucht, Klimawandel und Inflation sind ungelöste Dauerkonflikte. Populisten profitieren davon – mit simplen Antworten auf komplexe Fragen. Mit Heilsversprechen und Widerstand gegen ein vermeintlich „korruptes System einer Elite“. Die AfD befeuert die Krisenstimmung fleißig mit: durch Untergangsszenarien wie etwa den „Austausch des Volkes“ durch Migranten.
Für die AfD kann Deutschland gar nicht düster genug fühlen. Es ist eine Partei des Ressentiments – des „Wir“ gegen „Die“. Ein dumpfes, aber erfolgreiches Krisenkonzept. Die AfD gaukelt eine Kontrollillusion vor. Der Anspruch der Politik und aller Demokraten aber muss es sein, nicht nur diese Oberfläche rechter Propaganda anzukratzen – sondern nach den Ursachen dafür zu fragen, warum Menschen sich dieser Partei zuwenden. Drei Gründe:
Erstens: Die AfD geht dorthin, wo sich der Staat zurückzieht – aufs Land, in Kleinstädte, oft nach Ostdeutschland. Schwimmbäder werden geschlossen, bei Jugendzentren und Angeboten für Senioren wird gekürzt. Wohlfahrt hat die Politik vielerorts ausgelagert. Das rächt sich.
Zweitens: In Krisen suchen Menschen nach Halt, vor allem wenn sie weniger Geld haben und Angst um ihre Existenz. Die extreme Rechte produziert mit Erfolg das Konzept der „Volksidentität“. Deutschsein als Überlegenheitsgefühl. Als Anker in der Not. Alles, was Vielfalt sichtbar macht, wird zur Bedrohung dieser Nationalidentität.
Drittens hat die (west!)deutsche Politik eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Menschen in Ostdeutschland versäumt. Die AfD holt dort ihre größten Erfolge. Die „Mitte“-Studie zeigt dort die höchsten Extremismus-Werte. Viele Menschen im Osten sehen sich nicht repräsentiert in der Berliner Republik. Sie fühlen sich in ihrer Lebensleistung nicht wertgeschätzt. All das, was 40 Jahre Diktatur und viele Jahre Wende-Zeit aus Menschen macht, war kaum auf der politischen Agenda des geeinten Deutschlands. Wie viele Stunden DDR-Geschichte werden heute in deutschen Klassenzimmern unterrichtet?
Die AfD ist keine Verliererpartei. Sie erhält viel Zuspruch von Handwerkern, von Unternehmern. Weil auch dort die Unsicherheit wächst. Weil auch die Mitte der Gesellschaft anfällig für autoritäre Ideologien ist. Offen ist für Erlösung durch Ausgrenzung. Eigentlich sollten wir das – gerade in Deutschland – besser wissen.
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Quelle: BERLINER MORGENPOST, Redaktion
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