Berliner Morgenpost/Feiern reicht nicht!/Leitartikel von Jörg Quoos
Deutschland hat den Tag der Deutschen Einheit mit einem routinierten Festprogramm im wunderbaren Hamburg begangen. Festgottesdienst im Michel, Familienfoto der Verfassungsorgane vor der Elbphilharmonie, ein Bürgerfest. So weit, so schön.
Aber in die Festtagsstimmung hat sich doch die Sorge gemischt, dass das Land politisch weiter auseinanderdriftet. Wer die Zustimmungswerte der Umfrageinstitute studiert, kann leicht erkennen, dass entlang der ehemals deutsch-deutschen Grenze sich ein politischer Graben auftut. Der Beifall für rechte und rechtsextreme Populisten ist im Osten besonders groß. Das lässt für die Landtagswahlen nächstes Jahr in Sachsen, Thüringen und Brandenburg nichts Gutes erwarten.
Viele Menschen werden die Wahl nutzen, um der Politik einen Denkzettel zu verpassen. Das wäre nicht klug, weil die Politik der AfD gerade weniger Privilegierten oder vermeintlich Abgehängten nicht viel bietet. Aber dass es Unzufriedenheit gibt, hängt sicher mit Versäumnissen zusammen, die eine von überwiegend Westdeutschen dominierte Politik zu verantworten hat.
Jahr für Jahr listet der Bericht zum Stand der deutschen Einheit die Defizite auf, nur echte Konsequenzen zieht niemand daraus. An zu vielen Stellen ist der Osten noch nicht auf Augenhöhe. Das liegt in der Verantwortung der Ampel, aber geht überwiegend auf das Konto einer Regierung, die 16 Jahre lang von einer Ostdeutschen geführt wurde. Aber eine Frau im mächtigsten Amt reichte und reicht nicht. Die Liste der Führungspersönlichkeiten mit ostdeutscher Biographie in Politik, Wirtschaft – auch in den Medien – ist 33 Jahre nach der Einheit viel zu kurz.
Daher ist es höchste Zeit, dass sich Politik und die Verfassungsorgane Gedanken machen, wie man die ritualisierten Einheitsfeiern der vergangenen Jahrzehnte zu einer Veranstaltung macht, die hilft, die innere Einheit wirklich zu vollenden. Die neue Erkenntnisse aus der deutschen Seele liefert, Fragen aufwirft, Debatten entzündet.
Das Format der Wanderparty hat sich überholt und könnte von den Menschen im Osten nicht abgehobener empfunden werden als in diesem Jahr.
Das ist kein Vorwurf an den Gastgeber Hamburg, aber schöne Bilder, Feiertagsreden und ein Bürgerfest mit Musik und Verkehrskasper für die Kinder sind im Jahr 33 nach Wiedervereinigung keine Antwort auf die Probleme, die sich im Osten auftun. Der Bundespräsident fordert eine selbstkritische Bilanz und sagt in den Tagesthemen, „viele Ostdeutsche haben das Gefühl, dass sie nicht gehört und nicht gesehen werden“. Die Erkenntnis ist so alt wie die Einheit – aber was folgt konkret daraus?
Solange radikale Kräfte derart schnell wachsen, dürfen wir mit dem Werk der deutschen Einheit nicht zufrieden sein. Wirtschaftlich ist der Osten weit gekommen, aber der Geldbeutel alleine macht noch keinen zufriedenen und selbstbewussten Menschen. Mehr Respekt vor der Lebensleistung, echtes Interesse füreinander und konkrete Mechanismen, die mehr Ostdeutsche in Führungspositionen bringen, sind mehr als überfällig. Da ist die operative Politik gefordert, die bislang für jede noch so kleine Minderheit große Lösungen fand.
Die Feiertagsreden zum Tag der Deutschen Einheit beschreiben nur wohlklingend das Problem. Jetzt muss die Umsetzung her, sonst wird der Graben zwischen Ost und West noch tiefer.
__________________
Quelle: BERLINER MORGENPOST, Redaktion
Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell
Fotocredit: AdobeStock 266007589 / Brisystem