Briloner Schnadezug: Wissenswertes aus dem Rathausflur … Anschaulich erklärt von Bürgermeister Dr. Christof Bartsch und Marcus Bange

Wissenswertes aus dem Rathausflur … Anschaulich erklärt von Bürgermeister Dr. Christof Bartsch und Marcus Bange

Geschichtlicher Hintergrund des Briloner Schnadezuges

Was ist die Schnade und warum ziehen alle zwei Jahre tausende Männer aus der Stadt heraus, um einen Teil der Stadtgrenze abzuschreiten? Das erfahren Sie hier…

»Die Schnadezüge oder Grenzgänge waren in früheren Zeiten in dem Herzogtum Westfalen überall in größeren und kleineren Ortschaften üblich. Sie stammen aus den ältesten Zeiten unserer Väter und wurden im Laufe der Zeit auch durch die Landesregierung geboten als das beste und natürlichste Mittel, die Grenze zu wahren und den höchst widerwärtigen Grenzstreitigkeiten vorzubeugen. Wenn irgendwo, dann waren solche Gebote in Brilon unnötig; wohl an keinem Orte im ganzen Herzogtum Westfalen wurden die Züge mit größerer Pünktlichkeit und größerer Begeisterung von Seiten der Bürger ausgeführt als in Brilon. Die Liebe zu diesen Schnadezügen und die Begeisterung für sie ist dem Briloner angeboren und eigentümlich. Wenn er oft jahrelang von der Heimat entfernt gewesen ist und sonst auch sein Heimweh fühlt, dann wird er aber um Johanni, wo diese Züge stattfinden, nicht selten von ihm befallen. Er eilt aus weiter Ferne den Bergen seiner alten Vaterstadt zu, um einmal wieder mit der Lust und Begeisterung eines echten Briloners dem Schnadezuge beizuwohnen, sich zu weiden an dem Anblick der herrlichen Stadtwaldungen, die alten moosbedeckten Schnadesteine auf luftiger Bergeshöhe nach langer Zeit wieder zu begrüßen und sich mit süßer Wehmut an die Tage zu erinnern, wo er als Junge an der Hand seines Vaters oder vor ihm auf dem Pferde sitzend zuerst diese Grenzwächter in ihrer Waldeinsamkeit besuchte; um wieder wach zu rufen die Welt von begeisternden Gedanken und süßen Gefühlen, welche in ihm auftauchten, als er zum ersten Male diesen Zug mitmachte über wolken- und nebelbedeckte Berghöhen, durch tiefe dunkle Talschluchten, unter dem Schattendache von hundertjährigen Eichen und Buchen hin, oder über lichte Stellen, wo dem entzückten Auge eine prachtvolle Aussicht in die Ferne sich darbietet und die Vaterstadt aus weiter Ferne ihm zuwinkt, mit dem majestätischen Turme der Petrikirche, der sich wegen der hohen Lage der Kirche namentlich in der Ferne wie ein gewaltiger Riesenbau ausnimmt.«

Mit diesen poetisch anmutenden Worten hat der Briloner Ehrenbürger Christoph Becker, Oberlehrer am altehrwürdigen Gymnasium Petrinum, im 19. Jahrhundert dem Briloner Schnadezug ein literarisches Denkmal gesetzt. Noch heute ist der Schnadezug, eingebettet in das Schützenfest der St.-Hubertus-Schützenbruderschaft Brilon 1417 e.V., der Inbegriff der Briloner Brauchtums- und Traditionspflege.

Aber was genau versteht man unter einem Schnadezug? Um diese Frage zu beantworten, muss man weit in die Geschichte zurückblicken.

Im Mittelalter war es in vielen Städten des Herzogtums Westfalen üblich, dass die Bürger aus den wehrhaften Mauern ihrer Städte hinauszogen, um die Grenzen ihrer städtischen Gemarkung zu kontrollieren. Dies war auch in Brilon nicht anders. Schon im ausgehenden 13. Jahrhundert verfügte sie über einen ansehnlichen Grundbesitz, der sich in der Folgezeit zunächst eher beiläufig vergrößerte. Als in der Mitte des 14. Jahrhunderts in ganz Europa die Pest grassierte, ging in Folge dessen auch in Brilon und den Dörfern der Umgebung die Bevölkerung spürbar zurück. Viele Felder konnten nicht mehr bewirtschaftet werden und ganze Dörfer wurden wüst, d.h. von ihren noch verbliebenen Bewohnern verlassen. Diese zogen in der Regel nach Brilon und blieben auch dort. Die Stadt Brilon aber kaufte die wüst gewordenen Höfe und Dörfer systematisch auf und übernahm damit auch deren Rechte und Pflichten. Diese Politik wurde mit der Zeit immer konsequenter betrieben, weswegen sich das Gebiet der Stadt Brilon beträchtlich erweiterte.

Die Grenzen des Grundbesitzes wurden meist durch große Steine, manchmal auch durch besonders gekennzeichnete Bäume markiert. Die Richtigkeit der Grenzziehung musste aber in irgendeiner Weise überprüft werden, nicht zuletzt da Brilon von Nachbarn umgeben war, die ihrerseits darauf bedacht waren, den eigenen Grundbesitz zu vergrößern und in der Wahl ihrer Mittel – Steine konnte man versetzen und Bäume fällen – nicht immer zimperlich waren.

Überprüfungen anhand von Flurkarten oder Grundbüchern schieden aus, da beide erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts systematisch und flächendeckend angelegt wurden.

Im antiken Rom war die Vermessungskunst zwar bereits bekannt, auch eine Art Grundbuch gab es schon, doch hat dieses Wissen die Antike nicht überlebt bzw. seinen Weg nicht in die hiesigen, nie von den Römern beherrschten Gefilde gefunden. So verfiel man auf die Idee, sich in regelmäßigen Abständen zu Fuß oder zu Pferde auf den Weg zu machen, um die einst aufgestellten Grenzsteine persönlich in Augenschein zu nehmen und um neue Grenzsteine zu errichten. Dabei bediente man sich alter Urkunden und Rezesse, in denen der Grenzverlauf nach damaligen Maßstäben genau beschrieben war. Bei diesen Gelegenheiten waren auch immer die Vertreter des jeweiligen Grenznachbarn zugegen, damit man sich gemeinsam von der Richtigkeit der Grenzziehung überzeugen konnte. Kam es zu Unstimmigkeiten in Bezug auf die Grenzziehung, so wurde noch an Ort und Stelle ein neuer Rezess, eine Art Vergleich oder Grenzvertrag, geschlossen. Auf diese einfache Weise konnte sich so eine Generation nach den anderen den Verlauf der Grenzen einprägen.

In Brilon waren diese Grenzgänge jedoch mit der Schwierigkeit verbunden, dass sie größtenteils durch ausgedehnte und unzugängliche Wälder führten.

Von geschotterten oder gar geteerten Wegen war noch längst nicht die Rede. Die wenigen vorhandenen Wege muss man sich wohl als schmale, steile und schnell zuwachsende Saumpfade vorstellen, die gerade breit genug für einen Menschen oder ein Pferd waren. Bevor sich die Honoratioren und die Bürger der Stadt Brilon auf den Weg machten, die Grenzen zu inspizieren, mussten also stets einige Holzknechte oder Flurschützen vorausgeschickt werden, um die Grenze frei zu schneiden und damit erst begehbar zu machen. Und genau in dieser Tätigkeit, dem »Schneiden«, hat das Wort »Schnade« seinen vermutlichen Bedeutungsursprung. Im Laufe der Zeit hat sich die Bezeichnung dieser einen Tätigkeit dann auf den Grenzbegang als solchen übertragen, bis der Begriff »Schnade« schließlich gleichbedeutend mit »Grenze« war. Die Notwendigkeit des »Schneidens« im Sinne des Freischneidens der Grenzwege ist allerdings bis in die heutige Zeit geblieben. So schreibt der Magistrat der Stadt Brilon im Juni 1914 an den kommissarischen Oberförster Buss wie folgt:

»Wir laden Euer Hochwohlgeboren zur Teilnahme ergebenst ein und bitten, auch das Forstpersonal zur Teilnahme zu veranlassen. Gleichzeitig bitten wir die Grenze, soweit der Wald passiert werden muss, offen hauen zu lassen.« Heutzutage sind die Wälder von einer Vielzahl von Wander- und Fortwirtschaftswegen durchzogen, die streckenweise auch entlang der historischen Grenzen verlaufen. An einigen steilen oder besonders unwegsamen Stellen, müssen die städtischen Waldarbeiter aber auch heute noch mit ihrem Gerät anrücken, um den Schnadeweg frei zu schneiden. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Schnade« ist also noch nicht vergessen.

In Brilon ist der Brauch des Schnadezuges bereits Ende des 14. Jahrhunderts bezeugt. Nachweislich am 24. Juni 1388 gingen wehrhafte Briloner Bürger, namentlich erwähnt werden Bürgermeister Sweder van Hottepe und die Bürger Henneke Bick, Tyleman Tassche, Wichard van den Eyken, Johan Steinhoff und Heinrich Bickil, entlang der Waldecker Grenze, um dort Grenzsteine zu errichten, Schnadebäume zu kennzeichnen und einen Grenzvertrag mit ihrem Nachbarn, dem Grafen von Waldeck, abzuschließen.

Von da an machten sich die Briloner zunächst alle zehn, später dann alle zwei Jahre auf den Weg, um im Uhrzeigersinn jeweils ein Fünftel ihrer außergewöhnlich langen Stadtgrenzen zu kontrollieren. Erst nach fünf Schnadezügen in einem Zeitraum von zehn Jahren ist somit das gesamte Stadtgebiet einmal komplett umschritten. Der Briloner Bürger sagt dann stolz: »Ich bin einmal rum«.Allerdings berücksichtigen die Schnadezüge heute nur noch die historischen Grenzen und nicht das durch die kommunale Neugliederung von 1975 erheblich erweiterte Stadtgebiet. Aber auch so sind es immerhin noch etwa 130 km, die verteilt auf fünf Schnadezüge von jeweils 23 bis 36 km Länge, zu bewältigen sind.

Wenngleich die Schnadezüge früher in vielen Städten des Herzogtums Westfalen durchgeführt wurden, geriet dieser Brauch mit der Zeit fast überall in Vergessenheit. Erst in der jüngsten Zeit wurden sie in manchen Orten wieder zum Leben erweckt. Aber einzig und allein Brilon, die frühere Hauptstadt des Herzogtums Westfalen, kann von sich behaupten, diesen Brauch allen Widrigkeiten zum Trotz über die Jahrhunderte hinweg nahezu ununterbrochen aufrechterhalten zu haben.

Mittlerweile hat sich der Briloner Schnadezug zu einem der größten und originellsten Volksfeste Westfalens entwickelt, welches aus dem Festkalender der Stadt Brilon auch in Zukunft nicht mehr wegzudenken ist.

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Quelle: Stadt Brilon
Video: Ulrich Trommer / Brilon-Totallokal.de

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