Nach Podiumsdiskussion „Politik im Klassenzimmer“ folgt eine Geschichtsdokumentation zu den Anfängen des Nationalsozialismus in Brilon
brilon-totallokal: Die Geschichte der Weimarer Republik ist den meisten noch aus der Schule bekannt. Doch wie kam es zu der Krise der ersten deutschen Demokratie, die dafür sorgte, dass sogar das katholisch und ländlich geprägte konservative Brilon zu einer „braunen Stadt“ wurde? Was waren die Hintergründe dieser Entwicklungen? Sind die Entwicklungen gar mit heute vergleichbar? Diesen und anderen Fragen gingen sieben Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 10 und 11 des Briloner Gymnasiums nach. Begonnen mit dem Forschungs-Workshop „Brilon in Zeiten der Weimarer Republik“, entstand rund ein Jahr später in Zusammenarbeit mit dem Museum Haus Hövener ein 45‑minütiger Film, welcher die Geschehnisse in Brilon Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Eingebettet in die Geschichte der Weimarer Republik, zentrale Fragestellungen und Bezugnahme zu denselben und unterstützt durch Interviews mit Heiner Duppelfeld, Leiter des Heimatmuseums der Stadt Marsberg, und Bürgermeister Dr. Christof Bartsch, beschreibt die Dokumentation, wie es den Nationalsozialisten gelang, in Brilon die Demokratie zu stürzen.
„Die Kooperation hat die Ziele, den normalen Unterricht zu erweitern und Projekte und Veranstaltungen zu bieten, die die Schule im Unterricht nicht bewerkstelligen kann“, erläuterte Carsten Schlömer (Wissenschaftlicher Mitarbeiter Museum Haus Hövener und stellv. Vorsitzender Briloner Heimatbund-Semper Idem e. V.) die Intention der Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Petrinum.
Lokalbezug ausschlaggebend für lebendige Geschichte
„Es ist nicht möglich, diese Thematik mit einem Lokalbezug im Unterricht zu behandeln. Gerade die lokale Geschichte ist es aber, die Geschichte lebendig macht“, schilderte Mike Bothur sein persönliches Interesse an dem Projekt. „Und diese lokale Geschichte findet man in keinem TV-Programm“, ergänzte Karl-Erik Niggemann. Sind doch immer die großen Städte wie Berlin, München und Nürnberg die Schauplätze der Diktatur in den Schulbüchern. Brilon, Olsberg oder das Sauerland sucht man vergebens, sie waren ja beschauliche, ländlich geprägte Orte. So kam es dazu, dass die Schülerinnen und Schüler die Vergangenheit von Brilon erforschten und rekonstruierten. „Und dann ist Geschichte nicht mehr so weit weg, dann ist man ganz nah dran“, erklärte Dr. Christoph Thüer (Fachschaftsvorsitzender Geschichte). „Wir haben hier im Haus Hövener und im Stadtarchiv eine einmalige Situation. Brilon ist in diesem Punkt eine Großstadt“, so Dr. Thüer. „Global kann nicht entstehen, wenn es keine Geschichte im Lokalen gibt“, gab Ann-Kathrin Stappert zu bedenken. Leah Bartsch betonte, wie wichtig es sei, darauf zu achten, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät und der Mensch die Kontrolle verliert. Sie verdeutlichte dies an sozialen Missständen wie der Schere zwischen Arm und Reich. Doch noch sei die Welt im Großen und Ganzen verhältnismäßig stabil. Und es gebe zunehmend mehr Menschen, die aktiv werden, für die Gesellschaft etwas tun.
Feldforschung im Haus Hövener und im Stadtarchiv
Aktiv werden bedeutete für die Projektgruppe, in detaillierter Kleinarbeit und mit gewaltigem Fingerspitzengefühl die Ereignisse zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Aufstieg Adolf Hitlers aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So durchforsteten Mike Bothur, Karl-Erik Niggemann, Ann-Kathrin Stappert, Leah Bartsch, Lennard Rosenkranz, Jonas Lahme und Tim Wigge an vielen Nachmittagen, Abenden und Wochenenden im Archiv des Museums und im Stadtarchiv Haus Goldberg alte Quellen wie die „Sauerländer Zeitung“ – damals das wichtigste Pressemedium für die Bevölkerung -, Zeitdokumente und Ratsberichte. Sie betrieben „Feldforschung in Themenfelder, bei denen noch nie jemand ein Auge drauf geworfen hat“, erklärte Studienrätin Anja Burg, die das Projekt als Geschichtslehrerin begleitete. „Angefangen mit einem Workshop und der Frage, ob so etwas wie in der Weimarer Republik wieder passieren kann, gab es im zweiten Schritt im Oktober die Podiumsdiskussion mit Politikern (Briloner Anzeigerberichtete) und nun im dritten großen Endschritt die Herstellung dieser ersten Briloner Schülerdokumentation.“ Mit dieser Filmproduktion ist die Dokumentation der Forschungsgruppe beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und der Körber-Stiftung „Sieger der Herzen“ geworden. Und darauf ist die Forschungsgruppe stolz: „Es ist toll, etwas erarbeitet zu haben, das man anderen Leuten zeigen kann und was es in keinem anderen TV-Programm gibt“, brachte Tim Wigge das Ergebnis der monatelangen Forschungs- und Dokumentationsarbeit, zu der im Vorfeld neben der Podiumsdiskussion auch eine Ausstellung im Mai im Haus Hövener zählte, auf den Punkt.
„Doch warum ist es so wichtig, sich mit Geschichte zu beschäftigen?“ (Carsten Schlömer)
Aufklärung sei das Wichtigste, sind sich alle einig. Ohne das Wissen über Geschichte lassen sich viele der aktuellen Konflikte und Herausforderungen nicht verstehen.
Dr. Christoph Thüer: „Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber sie reimt sich.“ Es gebe gewisse Parallelen zu der Zeit zwischen 1918 und 1933. „Wichtig ist, dass junge Menschen sich mit Geschichte auseinandersetzen. Man kann nicht mehr für Politik lernen wie durch Geschichte.“
Bürgermeister Dr. Bartsch: „Vergessenheit ist genauso schlimm wie Besessenheit.“ Gehe es bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte doch auch um Entwicklungen, um die Gegenwart zu verstehen, gewisse Gefahren zu erkennen.
Heiner Duppelfeld stellte dar, wie wichtig es sei, dass sich Schule und außerschulische Einrichtungen für die Bewusstseinsbildung vernetzen. „Geschichtsbewusste junge Menschen, die Zusammenhänge erkennen, sind weniger manipulierbar. Das ist wichtig für die Identitätsbildung. Durch die Globalisierung werden Strukturen aufgelöst. Die Menschen werden orientierungslos, ihnen fehlt die regionale Verortung: da komme ich her, da bin ich verwurzelt, da habe ich meine Jugend verbracht.“
Schulleiter Johannes Droste: „Wir geben den Schülerinnen und Schülern das mit, was sie brauchen, damit die Zukunft gelingt. Gesellschaftswissenschaft und Geschichtswissenschaft ist Geschichtsforschung. Durch den regionalen Bezug wird Geschichte erlebbar gemacht, wie sie aus Büchern nicht erlebbar ist. Ich bin stolz darauf, so kluge Schüler zu haben.“
Winfried Dickel (Vorsitzender des Briloner Heimatbundes-Semper Idem e. V.): „Heimat ist das, wo ich mitmachen kann. Sei es als Messdiener, bei den Jungschützen, im Sportverein oder eben bei Projekten.“
Die nächste Projektidee steht bereits fest. Zu den anstehenden Hansetagen wird eine Schülergruppe im Rahmen des Wirtschaftsforums eine Ausstellung konzipieren und auch der Nationalsozialismus wird noch ein Thema sein.
„Und plötzlich macht alles Sinn“ sagte Wilhelmine Hövener einmal.
Infokasten:
- Seit 2016 gibt es die Bildungspartnerschaft des Petrinums mit dem Stadtarchiv Brilon und dem Museum Haus Hövener.
- Über den eigentlichen Unterricht hinaus wird das Schulleben des Petrinums geprägt von Projekten, Arbeitsgemeinschaften, der Teilnahme an Wettbewerben und Veranstaltungen, die über den Pflichtunterricht hinausgehen.
- Die Körber-Stiftung widmet sich u. a. den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Politik der Gegenwart.
- Interessierte können sich die Lokalgeschichtsdokumentation im Haus Hövener ansehen. Sie wird in Kürze auch auf der Homepage des Petrinums eingestellt.
Bild: Carsten Schlömer, Anja Burg, Dr. Christoph Thüer, Dr. Christof Bartsch, Johannes Droste und Heiner Duppelfeld unterstützen die Projektgruppe: Karl-Erich Niggemann, Leah Bartsch, Lennard Rosenkranz, Ann-Kathrin Stappert, Jonas Lahme, Mike Bothur und Tim Wigge
Quelle: Text und Foto, Silke Nieder