Siebtes Band über ‚vergangene Zeiten‘ aus der Stadt der Glocken
brilon-totallokal:Brilon. Kairo, Hongkong, Guatemala, Chicago oder Shanghei – bis weit über die Grenzen Deutschlands und Europas sind sie bekannt: die Glocken aus der Stadt des Waldes. Denn sie trugen den Namen ihrer Stadt in alle Welt und sind damit eine wichtige Periode der Stadtgeschichte: Drei Familien, acht Generationen und eine fast zwei Jahrhunderte lange Tradition des stationären Glockengusses machten Brilon zur „Stadt der Glocken“. Freitagabend stellten der Briloner Heimatbund Semper Idem und die Autoren den neuen Band der Reihe ‚Vergangene Zeiten – Geschichte aus Brilon‘ mit dem Titel „Glocken aus Brilon“ im Evangelischen Gemeindezentrum rund 60 interessierten Gästen vor.
Prof. Dr. Winfried Humpert ist einer der acht Autoren. Er kommt aus der Humpertschen Dynastie der Glockenbauer, lebt aber inzwischen seit 40 Jahren in Konstanz. „Man wird ja älter und wenn man älter wird, kann man am besten über die Wurzeln nachdenken“, merkte Dr. Humpert an. Und da er das Schreiben in der Engelbertschule gelernt hat, dachte er sich, er könne ja einmal etwas über die Glocken aus Brilon schreiben. Das war 1977. Mit der Gliederung in der Hand, ging er ins Haus Hövener und Wilfried Dickel war auch dort. Der Vorsitzende des Briloner Heimatbundes war begeistert: „Das machen wir“ und gab ihm freie Hand. Angedachte Seiten: 150 (!). Doch es vergingen viele Jahre bis zur Veröffentlichung. Komprimierte eineinhalb Jahre, sechs Tage pro Woche und vier Stunden täglich hat der Autor recherchiert. „Mein Bruder Reinhold unterstützte mich dabei“, schilderte der Enkel der Glockengießer-Dynastie aus Brilon. „Die Glocken sind wie meine Kinder, sagte mein Großvater. Jeden Abend um 22 Uhr ging er im Dunkeln durch die Gießerei und schaute, ob alles in Ordnung ist.“ Doch: „Glocken sind nicht Thema der höchsten Konjunktur. Das lohnt sich nicht. Regionalgeschichte verkauft sich nicht mehr“, war sich Prof. Humpert sicher und dachte bereits ans Aufhören. Sein Bruder jedoch schickte ihn zu dem Glockenspezialisten Gunter Kotthoff aus Brilon. Kotthoff motivierte ihn zu mehr Farbe bei den Ausführungen. „Und jetzt wo das Buch fertig ist, ist alles bunt. Das motiviert die Leser“, ist Prof. Humpert überzeugt. Was sich in den 200 Jahren verändert habe, wie der Bruch von der mittelalterlichen Produktion zur Industrieproduktion, sei gigantisch. Das könne man alles in dem Buch nachlesen und sehen.
Über neue Erfindungen und verschwundene Unterlagen
Doch die größte Motivation sei von Mit-Autor Theo Halekotte gekommen. Der Seelsorger und Glockensachverständige für das Glockenwesen im Erzbistum Paderborn hat bereits einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: „Brilon weiß, wo die Glocken hängen.“ Von 3.500 Glocken im Erzbistum seien 200 in Brilon gegossen worden, schilderte Halekotte – und zwar in einer ganz historischen Zeit bis in die Nachkriegszeit. Kurioser Weise gebe es keine Unterlagen, in welchem Kirchturm welche Glocken hängen. Seit vielen Jahren werde bereits inventarisiert. Der Sachverständige erläuterte die Zeit um das 18. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. So seien in der Zeit der Industrialisierung viele Kirchen gebaut worden, da während der Kriege fast alle zerstört wurden. Außerdem habe man während der Kriege Glocken für Kanonen einschmelzen lassen. „Die Briloner Glockengießerei brachte wie keine andere Firma immer neue Erfindungen, wie neue Fertigungsverfahren, Legierungen und Werkstoffe,hervor. Ganz viele alte Unterlagen seien verschwunden. Das Thema bzw. die Forschung darüber haben auch Halekotte gepackt: „Denn ich stoße im Alltag immer wieder darauf.“
„Viele Zufälle“ (Gunter Kotthoff)
Gunter Kotthoff sprach von vielen Zufällen. Vor sechs Jahren zog er nach Brilon und wohnte neben Heinrich Humpert, dem letzten Enkel des Humpert-Clans. „Jeder Kollege hat versucht, Reinhold Literatur zu geben.“ Kotthoff empfahl Prof. Humpert das Stadtarchiv. Doch die Bilder sollten bunt sein. Vielleicht war es tatsächlich ein Zufall, dass Prof. Humpert Kotthoff traf, den Regierungs-Vermessungstechniker a. D., mit seiner Leidenschaft für die Fotografie. Fast alle farbigen Bildaufnahmen stammen aus seinen Kameras. „Im Urlaub hatte ich nur noch Augen für Türme und natürliche Glocken“, so dass seine Frau zu ihm sagte, er solle die Glocken einmal in Brilon lassen. Mit Halekötte ging er den Spuren des ehrwürdigen Glockengießer-Handwerks in Brilon nach. Der fotografische Rundgang beginnt mit einem Besuch im Museum Haus Hövener. Diesem wird das letzte Kapitel im ersten Teil gewidmet. Weiter geht es mit Beiträgen von Theo Halekotte, Gerhard Best und Dr. Claus Peter im zweiten Teil um die Briloner Glocken aus der Sicht der Glockensachverständigen.
In Brilon wurde in den Jahren 1930 und 1936 auch die bis auf den heutigen Tag weltweit einzigartig gebliebene berufsständische Bildungseinrichtung für den Glockenguss geführt: die „Private Glockengießerschule der Glockengießerei von Heinrich Humpert“. Über die Glockengießerschule mit hoch modernem Konzept berichtet Heinz-Walter Schmitz im Band im ersten Teil. Leider waren er und die Autoren Dr. Peter, Best und Andreas Greubel an dem Abend verhindert.
Wissenschaftliches Werk, verständlich erklärt mit Zusatzinfos im Internet, Dauerausstellung im Haus Hövener
Das wissenschaftliche Werk aus 255 Seiten sei für jeden verständlich, motivierte Autor Winfried Dickel die interessierten Gäste. Allein der Anhang beträgt neun Seiten mit vier Seiten Literaturverzeichnis. Zudem kommen noch 65 Seiten Anhang mit einem Verzeichnis von rund 1300 Glocken im Internet hinzu. Diese, als auch Eindrücke aus der Dauerausstellung im Museum Haus Hövener sowie eine Auswahl vom Briloner Glockengeläut können auf der Website des Museums unter „Ausstellungen, Dauerausstellungen“ eingesehen werden: www.haus-hoevener.de
Kotthoff: „Von überall kann man nun Briloner Glocken hören. Wenn man noch Briloner Glocken findet, kann das Verzeichnis aktualisiert werden.“ Ohne diese Cloud wäre das Buch rund 70 Seiten dicker geworden und hätte auch eine andere Preisklasse. So kostet es nur 10 Euro und ist für Mitglieder des Briloner Heimatbundes kostenlos. Der günstige Preis ist durch die Leader-Förderung (65 % Förderung) möglich. Ein besonderer Dank galt der Firma Satz & Druck Kemmerling GmbH aus Brilon für die Gesamtherstellung.
1762 bis 1955 – Ein Rückblick aus der Stadt der Glockenmacher
Der kontinuierliche Glockenguss in Brilon und Meschede als festem Standort begann mit den Gebrüdern Rötger und Caspar Greve, ehemalige Wanderglockengießer, als sie 1762 das Liefergebiet der Glockengießer Berndt Wilm Stule und der Gießerfamilien Delapaix übernahmen. Caspar Greve (1741 – 1826) ließ sich mit seiner Frau Maria (geb. Köchling) in Brilon nieder, sein Bruder in Meschede. Der Gussort von Caspar Greve befand sich möglicherweise in der heutigen Gartenstraße. Die Briloner Familie Greve wohnte in der heutigen Kirchenstraße 12. Caspars Sohn Jacob (1777 – 1843) war sein Nachfolger. Die Glockengießerei wurde im Jahre 1826 unter Jacob Greve näher an die Stadt verlegt und behielt diesen Standort bis zur Beendigung des Briloner Glockengusses im Jahre 1959 bei. Jacob Greve und seine Frau Maria (geb. Köchling) hatten eine Tochter. Seine Schwester Elisabeth heiratete den Mühlenmeister Franz Humpert aus Antfeld im Jahre 1813. Deren Sohn Heinrich Humpert (1813 – 1888) übernahm die Glockengießerei von seinem Onkel Jacob im Jahr 1842. Mit seinem Onkel Jacob hat er 1839 zwei Glocken für die Propsteikirche und eine für die Rochuskapelle gegossen. 1843 heiratete er Heinrich Catherina Kraft aus Brilon. Ihr Sohn Franz (1851-1934) war der nachfolgende Glockengießer. Die Familie wohnte in der Kirchenstr. 11, schräg gegenüber den Greves. Nach dem Tode seines Vaters Heinrich übernahm er 1888 die Briloner Glockengießerei, welche er 1918 verkaufte, da sich fast alle Mitarbeiter im Kriegsdienst befanden und der vorgesehene Nachfolger, sein Neffe, im 1. Weltkrieg gefallen war.
1918 übernahm die Glockengießerfamilie Junker in zwei Generationen den Betrieb. Die Entwicklung erfuhr im 20. Jahrhundert einen deutlichen Aufwind in der Nachkriegszeit (zweiter Weltkrieg) und den Wandel von der mittelalterlichen Produktion zur industriellen Produktion. „Von 1950 bis 1955 wurden dann nur noch einzelne Glocken hergestellt, da die Firma auf Eisenguss umgestellt hatte. Das war eigentlich schon das Ende“, schrieb ein Gießereifachangestellter. Albert Junker jun. hatte die Produktion komplett auf Rohrguss und Guss von Stahlformen umgestellt.
1977 wurde der Betrieb an ein Tochterunternehmen der Olsberger Hütte verkauft und im Jahr 1984 wurde das Gießereigelände gesprengt. Heute steht in der Altenbürener Straße 22 ein Glockennachguss vor der AWO-Seniorenwohnanlage als Andenken.
Quelle: Silke Nieder