Deutschland im Mai 2024. Haltung wird schamlos zur Schau gestellt, auf Sylt werden Naziparolen grölt, AfD Höcke vor Gericht, Krah fliegt wegen SS-Verharmlosung …

Schamlos rechts – Leitartikel von Julia Emmrich

Deutschland im Mai 2024: AfD-Frontmann Björn Höcke steht wegen seiner SA-Parolen vor Gericht. Parteikollege Maximilian Krah fliegt wegen seiner SS-Verharmlosung aus der Rechtsaußen-Fraktion im Europaparlament. Die AfD insgesamt kassiert im Streit mit dem Verfassungsschutz eine Niederlage – und darf weiter als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet werden. Gut möglich, dass sie bald als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird. Und schließlich: In den Umfragen schafft es die Rechtsaußen-Partei schon länger nicht mehr über 20 Prozent.

Auf den ersten Blick: alles gute Nachrichten für eine wehrhafte Demokratie.

Sieht doch ganz so aus, als würde Deutschland noch mal im letzten Moment die Kurve kriegen. Als würde sich die AfD durch ihre völkischen Frontleute am Ende doch mehr schaden als gedacht. Als würde der Spuk bald wieder verschwinden. Als wäre der wachsende Rückhalt für rechtspopulistische Parolen ein vorübergehendes Fieber.

Schön wär’s. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus.

Rechtssein gehört in vielen Milieus inzwischen zum guten Ton. Das war früher nicht anders – neu ist, dass diese Kreise ihre Haltung inzwischen schamlos zur Schau stellen, ungeniert verbreiten und sich dabei großartig finden. Die Wirklichkeit ist erbärmlich banal, beunruhigend böse – und sie ist oft sehr bürgerlich. Sie zeigt sich auf dem Marktplatz in der sächsischen Provinz genauso wie in Nobel-Hotspots, wo grölende Sprösslinge mit den modischen Insignien der Upperclass einmal mehr beweisen, dass Rechtssein noch nie eine Frage des sozialen Status war.

Die deutsche Wirklichkeit spiegelt sich in solchen Szenen, wie sie sich jetzt auf Sylt abgespielt haben:

Vor einer teuren Bar grölt ein Haufen Leute vollkommen schamlos „Ausländer raus“-Parolen. Sie finden sich super, sie filmen sich, sie können gar nicht genug kriegen. Ein Einzelfall? Ein Ausrutscher? Zu viel Sonne, zu viel Alkohol? Sagen wir es mal so: Wer im nüchternen Zustand keine Nazi-Parolen schwingt, wird im betrunkenen Zustand nicht plötzlich zum Höcke. Andersherum: Wer sich so filmen lässt, kann sich nachher schlecht rausreden.

Die Empörung, die nach Bekanntwerden des Videos durchs Land lief, ist groß. Gut so. Der Fall Sylt, bei dem inzwischen sogar der Staatsschutz ermittelt, kann dazu dienen, auch dem letzten Gutgläubigen die Augen zu öffnen: Nicht nur abgehängte, unzufriedene, frustrierte Deutsche sind anfällig für rechte Parolen. So was kam und kommt auch in vermeintlichen Gewinnermilieus vor – und ist gerade dort besonders gefährlich.

Denn: Wer auf Sylt feiert, gehört in der Regel zu denjenigen, die bereits jetzt oder in Zukunft in Deutschland an entscheidenden Hebeln sitzen – in den Unternehmen, in den Kanzleien, bei den Lobbyisten.

Wer im Freizeitoutfit Naziparolen grölt, wird sich im Businessanzug nicht zum glühenden Verteidiger der Demokratie wandeln. Es mag Zufall sein, dass das Video von Sylt gerade jetzt in Umlauf kam, als alarmierender, oder wie Kanzler Olaf Scholz es nennt, „ekliger“ Kontrapunkt zum Verfassungsjubiläum in dieser Woche. Aber es passt. Es liefert den Beweis dafür, dass sich niemand Illusionen machen sollte: Die AfD mag in den Umfragen mal stärker, mal schwächer sein. Gefährlich ist die breitbeinige Selbstgefälligkeit, mit der alte und neue Rechte überall im Land heute wieder auftreten.

____________________________

BERLINER MORGENPOST
Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell

Fotocredit: AdobeStock 599548933 / AdobeStock 313598194 / Brisystem

Teilen Sie diesen Bericht mit Ihren Freunden